Hessischer Klimabeirat appelliert an Koalitionsparteien:

Land Hessen muss beim Klimaschutz entschieden handeln

Der Wissenschaftliche Klimabeirat des Landes Hessen ruft anlässlich der anstehenden Koalitionsverhandlungen die beteiligten Parteien zu konsequentem Klimaschutz auf.


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In einer heute veröffentlichten Stellungnahme empfehlen die fünf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein Klimasofortprogramm zur Reduktion der CO2 Emissionen auf Netto Null und beschreiben notwendige Schritte hin zur Klimaneutralität Hessens bis 2045.

„Angesichts der großen Risiken, die eine weitere Erwärmung des Klimas mit sich bringt, müssen wir auf dem eingeschlagenen Weg schneller und konsequenter vorankommen“, erklärt Prof. Dr. Sven Linow, Vorsitzender des Beirats. Da absehbar ist, dass die hessischen Klimaziele für das Jahr 2025 nicht erreicht werden, braucht das Land aus Sicht der Expertinnen und Experten eine solide Planungsgrundlage, die den Weg zur Klimaneutralität in 2045 aufzeigt. Aufgrund des hohen Zeitdrucks ist die Umsetzung geeigneter Maßnahmen parallel zur Erstellung der Planung unbedingt erforderlich.

Auch wenn dem Bund eine maßgebliche Verantwortung für die Reduzierung von Treibhausgasemissionen zukommt, empfiehlt der Klimabeirat dringend die Umsetzung von insbesondere solchen Maßnahmen, die auf Landesebene vergleichsweise kurzfristig realisierbar sind. Damit dies gelingt, fordert der Beirat ein konsequentes Umdenken in Politik und Verwaltung: Ab sofort muss Klimaschutz bei allen Vorhaben angemessen berücksichtigt werden, nur so lassen sich die im Hessischen Klimagesetz verankerten Ziele realisieren.

Insbesondere im Verkehrssektor ist der Handlungsdruck aufgrund überdurchschnittlicher CO2-Einsparnotwendigkeiten besonders hoch. Doch gerade hier erweisen sich die bisher ergriffenen Maßnahmen als völlig unzureichend. Für einen wirksamen Klimaschutz müssen darüber hinaus auch im Bausektor und bei der Strom- und Wärmeversorgung weitreichende Maßnahmen umgesetzt werden. Diese werden in der Stellungnahme beispielhaft benannt, wie die Vermeidung von Flächenversiegelung, der Einsatz ressourcenschonender, kreislauf-fähiger Baustoffe oder die Gebäudeausstattung mit Anlagen der erneuerbaren Energien.

„Auf der Landesebene werden bereits viele Weichen gestellt, die Umsetzung von Maßnahmen erfolgt aber häufig in den Landkreisen, Städten und Gemeinden. Hier darf Klimaschutz keine Kür sein, sondern muss zur kommunalen Pflichtaufgabe werden“, sagt Linow und betont: „Die Kommunen müssen dabei mit aller Kraft unterstützt werden.“

Der Klimabeirat geht davon aus, dass der Einsatz neuer Technologien zur Bereitstellung von Wasserstoff oder technische Senken zwar einen wichtigen Beitrag zur Emissionsminderung leisten kann. „Neue Technologien und effiziente Prozesse alleine genügen jedoch nicht, um die Klimaziele zu erreichen,“ sagt Prof. Dr. Flurina Schneider, stellvertretende Vorsitzende des Klimabeirats. „Zentraler Baustein eines wirksamen Klimaschutzes ist auch Energiesuffizienz.“ Das bedeutet, den Bedarf an Energie zu senken, sowohl durch Verhaltensänderungen auf individueller Ebene als auch durch strukturelle Maßnahmen oder Regularien, die eine Abkehr von energieintensiven Lebensweisen begünstigen.

Der Klimabeirat betont hierbei die Bedeutung gesellschaftlicher Teilhabe. „Notwendig ist ein Verständnis und eine strategische Ausrichtung von Klimaschutzmaßnahmen, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt und eine soziale Spaltung vermeidet“, sagt Schneider. Damit Klimaschutz gelingen kann, müssen partizipative Prozesse gestärkt werden. Zudem muss explizit auf die unterschiedlichen sozioökonomischen Ausgangsbedingungen Rücksicht genommen werden.

Über den Wissenschaftlichen Klimabeirat

Der Wissenschaftliche Klimabeirat wurde im April 2023 von der hessischen Landesregierung berufen. Er ist ein unabhängiges Beratungsgremium für Klimaschutz und Klimaanpassung. Dem wissenschaftlichen Klimabeirat gehören folgende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an: Prof. Dr. Ulrike Jordan (Universität Kassel, Solar- und Anlagentechnik), Prof. Dr. Martin Lanzendorf (Goethe-Universität Frankfurt, Mobilitätsforschung), Prof. Dr. Sven Linow (Hochschule Darmstadt, Wärmelehre und Umwelttechnik), Prof. Dr.-Ing. Iris Steinberg (Hochschule Darmstadt, Umweltingenieurwesen), Prof. Dr. Flurina Schneider (ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung und Goethe-Universität Frankfurt, Soziale Ökologie und Transdisziplinarität).

Stellungnahme des wissenschaftlichen Klimabeirats anlässlich der Koalitionsverhandlungen 2023

Angesichts der existentiellen Bedrohung, die eine weitere Erwärmung des Klimas mit sich bringt, appellieren wir an die Parteien, die sich jetzt an den Koalitionsverhandlungen im Land Hessen beteiligen, dem Klimaschutz die dafür notwendige zentrale Bedeutung beizumessen.

Wir rufen die zukünftige Landesregierung zu einem konsequenten Umdenken auf, damit Klimaschutz ab sofort bei allen Vorhaben des Landes angemessen berücksichtigt wird. Kommunen müssen jetzt entschieden handeln, damit Klimaschutzmaßnahmen auch Erfolge zeigen können. Das Hessische Klimagesetz ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Um die dort verankerten Ziele zu erreichen, ist allerdings eine Erhöhung des Tempos und eine entschlossene Umsetzung in allen Bereichen notwendig.

Es ist absehbar, dass die hessischen Klimaziele für das Jahr 2025 nicht erreicht werden. Um die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit so weit wie möglich zu schließen, braucht das Land Hessen ein strukturiertes Klimasofortprogramm, das, wie die kommunale Wärmeplanung, eine strategische Zielplanung bis zu Netto Null CO2-Emissionen enthält. Wichtig ist dabei, dass diese Planung mit effektiven Vorhaben hinterlegt ist, die direkt in die Umsetzung gehen und deren Wirksamkeit quantifizierbar und damit überprüfbar ist. Auch wenn dem Bund eine maßgebliche Verantwortung für die Reduzierung von Treibhausgasemissionen zukommt, lassen sich viele Maßnahmen deutlich kurzfristiger auf Landesebene umsetzen, u.a. durch Vorgaben zu Dach- und Balkon-PV-Anlagen, Aufstockung von Investitionen in öffentliche Gebäudesanierung, Flächenentsiegelungen oder die Überprüfung bestehender Förderprogramme auf Klimakompatibilität. Wichtig sind zudem auch konsequente Maßnahmen, um die klimaneutrale Landesverwaltung zu erreichen, ohne auf fragwürde Mechanismen zur CO2-Kompensation zurückzugreifen.

Den Kommunen kommt eine besondere Verantwortung für die Erreichung der Klimaziele zu. Klimaschutz darf deshalb keine Kür sein, sondern muss als Pflichtaufgabe etabliert werden. Das bedeutet auch, dass Kommunen mit aller Kraft unterstützt werden müssen, damit sie dieser verantwortungsvollen Verpflichtung nachkommen können. Dies ließe sich durch schrittweise Benennung konkreter Pflichtaufgaben steuern, aus denen sich nach und nach der Finanzierungsaufwand des Landes ableiten lässt (Konnexität). Dazu eignen sich zum Beispiel ein verpflichtendes Energiemanagement, Strategien für klimaneutrale Kommunalverwaltungen und Sanierungsfahrpläne für öffentliche Gebäude.

Wärme-, Verkehrs- und Bausektor: Prioritäten für wirkungsvollen Klimaschutz

Große Herausforderungen entstehen in den Kommunen bei der Transformation der Wärmeversorgungssysteme und bei den dringend notwendigen Energieeinsparmaßnahmen. Diese sind insgesamt mit sehr hohen Investitionen verbunden. Wie auch andere Investitionen in Klimaschutzmaßnahmen sind sie jedoch deutlich geringer als die zu erwartenden finanziellen Folgen bei ausbleibendem Klimaschutz. Zum Erfolg dieser Maßnahmen ist eine umfangreiche Unterstützung und gründliche Überwachung der kommunalen Wärmeplanung durch die Landesverwaltung entscheidend. Eine wichtige Rolle spielt in der kommunalen Wärmeplanung auch die Einbeziehung von Gebäudeeigentümer*innen und der übrigen Bevölkerung, zum Beispiel bei der Durchführung von Energieeinsparmaßnahmen.

Im Verkehrssektor sind Handlungsdruck und Einsparnotwendigkeiten ebenfalls überdurchschnittlich hoch. Hier müssen nicht nur Alternativen zum privaten PKW ausgebaut und besonders gefördert werden. Gleichzeitig muss die Attraktivität des motorisierten Individualverkehrs reduziert werden. Dabei steht außer Frage, dass eine Differenzierung zwischen ländlichen und urbanen Räumen sowie für bestimmte Berufsgruppen erfolgen muss, um den individuellen Mobilitätsbedürfnissen gerecht zu werden.

Wichtige Handlungsspielräume für das Land gibt es auch durch die besondere Förderung von alternativen Mobilitätskonzepten, die die Kombination der Verkehrsmittel des Umweltverbundes alltagstauglich machen. Hierzu gehören der weitere Ausbau und die Erhöhung der Attraktivität des Bus- und Bahnverkehrs, die Begrenzung der Inanspruchnahme von Straßen- und Parkplatzflächen, die Reduzierung von Höchstgeschwindigkeiten und die Einführung von Straßenbenutzungsgebühren. Viele große europäische Metropolregionen zeigen beispielhaft, welche Veränderungen hier möglich sind (u.a. Paris, Barcelona, Wien oder Kopenhagen).

Im Bausektor sind ein Mentalitätswandel auf der strategischen Planungsebene sowie Novellierungen in der Verwaltung und den Planungsprozessen erforderlich. Kurzfristige finanzielle Erwägungen dürfen den mittel- und langfristigen Nutzen durch klimafreundliches Handeln nicht verhindern. Durch eine klimafreundliche und insbesondere ressourcenschonende Planung, eine Vermeidung von Versiegelung und Neubauten, den Einsatz von ressourcenschonenden und kreislauffähigen Baustoffen, die Ausstattung von Gebäuden mit Anlagen der erneuerbaren Energien sowie Umwidmungen von Bestandsgebäuden können im Bausektor große Einsparungen erreicht werden. Da Gebäude für eine lange Lebensdauer errichtet werden, ist es notwendig, jetzt die notwendigen Entscheidungen zu treffen und, ausgehend von der angestrebten Klimaneutralität 2045 und dem Lebenszyklus von Gebäuden und Gebäudetechnik, entsprechende Vorgaben zu machen, um jetzt den Pfad zur Klimaneutralität einzuschlagen.

Die Hessische Bauordnung (HBO) enthält maßgebliche Hebel, um den sozial-ökologischen Wandel im Bausektor voranzutreiben. Damit die Hebelwirkung möglichst rasch einsetzen kann, sollte das Land Hessen den Bausektor, ebenso wie den Wärme- und Verkehrssektor prioritär behandeln.

Emissionen mindern durch neue Technologien, natürliche Senken und Suffizienz

Während in Industriezweigen wie der Stahl- und Chemieindustrie der Einsatz von grünem Wasserstoff maßgeblich zur Dekarbonisierung beitragen kann, wird Wasserstoff nach derzeitigen Erkenntnissen für die Wärmeversorgung oder den Verkehrssektor aus physikalischen und wirtschaftlichen Gründen nicht in größerem Maßstab zur Verfügung stehen. Um Fehlentwicklungen zu vermeiden, muss daher auch die Landesregierung die Abkehr von Verbrennungsprozessen im Wärmeversorgungs- und Verkehrssektor konsequent vorantreiben.

Technische und natürliche Senken werden erforderlich sein, um den Rest der unvermeidbaren Emissionen auszugleichen. Hierfür ist es notwendig, frühzeitig zu ermitteln, welche Emissionen als unvermeidbar anzusehen sind und welches Potenzial Senken haben – auch im Hinblick auf Synergieeffekte mit Land- und Forstwirtschaft sowie Klimaanpassung.

Bisher konnten die CO2-Emissionen in Hessen nicht merklich abgesenkt werden. Stattdessen wurden der technische Fortschritt und erzielte Energieeinsparungen der letzten Jahre durch erhöhten Konsum kompensiert. Daher ist es unbedingt notwendig, auch die Energienachfrage in den Blick zu nehmen und Verhaltensänderungen auf individueller Ebene durch strukturelle Maßnahmen und Regularien zu erleichtern (Energiesuffizienz). Mittelfristig braucht es dazu Investitionen in Technik und Infrastrukturen, die das „Nicht-Nutzen“ von Energie unterstützen. Der Landesregierung kommt dabei eine besondere Verantwortung zu, denn Energiesuffizienz braucht einen Mix aus überzeugender zielgruppengerechter Kommunikation, Kompetenzaufbau, Ordnungsrecht und klaren Preissignalen. In Reallaboren können neue Ideen zur Gestaltung veränderter Alltagspraktiken erprobt werden.

Gesellschaftliche Teilhabe stärkt den Klimaschutz

Die gesellschaftlichen Aspekte beim Klimaschutz noch besser zu berücksichtigen, ist von immenser Wichtigkeit. Das anhaltend hohe Tempo bei der Umsetzung erfordert ein grundsätzliches Verständnis von der Bedeutung gesellschaftlicher Teilhabe und eine strategische Ausrichtung von Klimaschutzmaßnahmen, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt und eine soziale Spaltung vermeidet. Damit Klimaschutz gelingen kann, müssen daher partizipative Prozesse und die Teilhabe der Menschen gestärkt werden. Zudem muss explizit auf die unterschiedlichen sozioökonomischen Ausgangsbedingungen Rücksicht genommen werden. Ärmere Menschen sind von Klimawandel und Klimapolitik besonders betroffen, d.h. sie sind besonders zu schützen. CO2-Bepreisung und Emissionshandel belasten ärmere Haushalte finanziell überproportional stark – insbesondere im Bereich Wärme und Verkehr. Das Land kann vulnerable Gruppen (Mieter*innen aber auch Eigentümer*innen mit geringem Einkommen) entlasten, indem z.B. Quartiere mit einem besonders hohen Anteil vulnerabler Gruppen bei der kommunalen Wärmeplanung (erschwinglich energetisch hochwertigen Wohnraum) oder bei der Klimaanpassung (z.B. Maßnahmen zur Begrünung und Entsiegelung) besonders berücksichtigt werden.

Hessisches Ministerium für Umwelt, Klimaschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz