Grundsatzentscheidungen zur Einzelfallprüfung gewerblicher Alttextilsammlungen

OVG NRW

Im Rahmen zweier erst kürzlich veröffentlichter Berufungsurteile hat sich das OVG NRW erstmals ausführlich in Hauptsacheverfahren mit den Voraussetzungen einer gewerblichen Alttextilsammlung im Sinne der §§ 17, 18 KrWG auseinandergesetzt.

Dabei hat es Insbesondere die Auffassung bestätigt, dass es für die Untersagung einer gewerblichen Sammlung wegen entgegenstehender überwiegender öffentlichen Interessen gem. § 17 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 KrWG einer „wesentlichen“ Beeinträchtigung bedarf, diese aber am jeweiligen Einzelfall zu überprüfen ist. Für diese Prüfung hat das OVG gleichsam eine Richtschnur formuliert (Urteile vom 21.09.2015, Az.: 20 A 2120/14; 20 A 2219/14) – und kommt dabei europarechtlich zu überraschenden Erkenntnissen.


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Keine fristgebundene Untersagung

Zu den Voraussetzungen einer Untersagung gestützt auf § 18 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 KrWG stellte das Gericht zunächst fest, dass eine Untersagungsverfügung auch mehr als drei Monate nach der Anzeige der gewerblichen Sammlung ergehen kann. Die in § 18 Abs. 1 KrWG enthaltene dreimonatige Frist betreffe lediglich den Zeitpunkt zwischen der Anzeige und der frühesten Aufnahme der Sammeltätigkeit. Die materiellen Voraussetzungen für das Entfallen der Überlassungspflicht blieben hiervon aber ebenso unberührt wie die behördliche Befugnis, eine Anordnung gem. § 18 Abs. 5 KrWG auszusprechen.

Tatbestand des § 17 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 KrWG

Zu den tatbestandlichen Anforderungen des § 17 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 KrWG stellt das Gericht vorab klar, dass auch ein Bringsystem mit flächendeckend aufgestellten Sammelcontainern die Anforderungen an ein geschütztes System grundsätzlich erfüllen könne. Ausschlaggebend sei, dass für sämtliche Einwohner des Entsorgungsgebietes eine mit zumutbarem Aufwand erreichbare Möglichkeit der Abgabe der Abfälle bestehe.

Auslegung des § 17 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 KrWG

Die weitere Formulierung, dass eine wesentliche Beeinträchtigung bei Vorliegen des Tatbestandes „anzunehmen“ ist, sei als widerlegliche Vermutung oder als Regelfall mit Ausnahmevorbehalt zu verstehen. Nach diesem Verständnis bedürfte die Regelung des § 17 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 KrWG entgegen der Auffassung der Vorinstanz und der wohl überwiegenden Auffassung in Literatur und Rechtsprechung auch keiner weiteren Korrektur im Sinne einer einschränkenden Auslegung. Bei Vorliegen des Tatbestandes bleibe daher stets zu prüfen, ob bei der Betrachtung des konkreten Einzelfalles Umstände zu erkennen seien, die im Sinne einer Widerlegung der Vermutung bzw. einer Ausnahme von dem Regelfall ein anderes Ergebnis stützten.

Handhabung der Einzelfallbetrachtung

Zur „praxisgerechten“ Handhabung der Einzelfallbetrachtung stellt das OVG drei „Faustgrößen“ auf:

  1. Liegt der zu berücksichtigende Anteil der gewerblichen Sammelmenge unter 10 % der kommunalen Sammelmenge, ist regelmäßig anzunehmen, dass kein wesentlicher Einfluss auf das bestehende hochwertige System vorliegt.
  2. Liegt dieser Anteil bei über 50 %, ist regelmäßig von einem wesentlichen Einfluss auszugehen.
  3. Liegt dieser Anteil in dem verbleibenden Zwischenraum von etwa 10 % bis 50 %, so ist es die Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgers die konkreten Auswirkungen auf seine Funktionsfähigkeit unter dem Blickwinkel der Planungssicherheit und Organisationsverantwortung seines Systems plausibel zu machen.

Konkrete Entscheidungen

Ausgehend von diesen Grundsätzen standen in den von dem Gericht zu entscheidenden Fällen der gewerblichen Sammlung in einem Fall überwiegende öffentliche Interessen entgegen und im anderen Fall nicht. Das Gericht ließ die Revision zu und begründete dies damit, dass die Frage, wann überwiegende öffentliche Interessen bei Bestehen eines hochwertigen Erfassungssystem des öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgers oder des Drittbeauftragten i. S. v. § 17 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 KrWG einer gewerblichen Sammlung entgegenstehen, grundsätzlicher Klärung bedürfe.

Kritik

Auch das OVG NRW meint, die Frage des Vorliegens der Voraussetzungen des § 17 Abs. 3 KrWG „nicht ohne Prozentsätze“ lösen zu können. Die relative Höhe der Sammelmenge von gewerblichen Sammlungen soll folglich entscheidungserheblich sein. Eine solche prozentuale Beurteilung kann jedoch weder der – bekanntlich sehr ausführlichen – Regelung entnommen werden, noch erlaubt diese eine vollzugstaugliche Lösung. Denn, wie [GGSC] schon wiederholt darauf hingewiesen hat, bei einer prozentualen Bewertung stellen sich unzählige Folgefragen der konkreten Berechnung (insb. bei zu unterschiedlichen Zeiten angezeigten, geänderten oder beendeten Sammlungen), die nicht stringent gelöst werden können.

Gleichwohl ist mit den Entscheidungen der Versuch des Gerichts erkennbar, einerseits die bisherige (insb. erstinstanzliche) Rechtsprechung zu Prozentsätzen bzw. der „Wesentlichkeitsschwelle“ aufzugreifen und andererseits mit den sog. „Faustgrößen“ den Blick wieder stärker auf den konkreten Einzelfall zu lenken. Aus kommunaler Sicht als positiv ist hervorzuheben, dass sich das OVG NRW von der stark mit angeblichen europarechtlichen Zwängen argumentierenden Rechtsprechung des VGH Baden-Württemberg deutlich abgrenzt und im Einzelnen sogar eine beachtliche Gegenposition entwickelt: so sei es europarechtlich durchaus zu begründen, dass schutzwürdig gerade ein hochwertiges kommunales System ist!

Es bleibt vor diesem Hintergrund abzuwarten, wie das Bundesverwaltungsgericht in den bereits in anderer Angelegenheit anhängigen Revisionssachen zu den gewerblichen Sammlungen (voraussichtlich in 2016) entscheiden wird.

Gaßner, Groth, Siederer & Coll